17.05.2019 Unter der Knute des Grigal

In der letzten Nacht in Punta Ala schlafe ich sehr schlecht. Immer wieder werde ich wach und lausche hinaus. Was macht der Wind?

Über Nacht hat er sich tatsächlich beruhigt, aber ich traue ihm nicht über den Weg! Oft tut er nämlich nur so, als sei er eingeschlafen. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, springt er plötzlich wieder mit einem mächtigen Satz aus seinem Wolkenbett.

Auch der Käptn ist früh wach. Um 5:45 Uhr ist die Kuchenbude zusammengerollt und der Strom abgeschlagen. Dann werfen wir die Leinen los.

Als wir den Golf von Follonica zwischen Punta Ala und Piombino überqueren, geht über den Bergen der Toskana die Sonne auf.

Um 6:05 Uhr schicke ich eine Abschieds-What´s App nach Elba hinüber. Dort liegen seit gestern wieder Esther und Berni in ihrer Koje auf der Oya. Die beiden haben dem südlichen Italien den Rücken gekehrt und sind wieder in den Norden gesegelt, doch leider hat es mit einem Wiedersehen in der Toskana nicht geklappt.

Um 13:30 Uhr haben wir 43 Meilen geschafft. Nun sind es noch knapp neun Meilen bis Livorno. Als ich dort wegen eines Liegeplatzes im Yachtclub anrufe, habe ich ein total aufgeregtes Huhn – besser gesagt einen Hahn – an der Strippe.

Während der gute Mann gleichzeitig mit mir in englischem Kauderwelsch und auf Italienisch mit seinen beiden Kumpels kommuniziert, gibt er mir eine Telefonnummer durch, die ich mit Müh und Not verstehen kann. Leider ist das ganze Theater umsonst, denn als ich die Nummer wähle, geht keiner ran. Wir verzichten endgültig auf diesen „Chaosclub“ und melden uns in der Marina Calle de Medici (neun Seemeilen südl. von Livorno) an, deren lange Mole querab zu erkennen ist.

Bei der Ansteuerung wechselt das tintenblaue Wasser plötzlich seine Farbe und nimmt ein unwirkliches, fast giftig wirkendes Aquamarinblau an. Ob das mit der ansässigen Chemiefabrik zusammenhängt?

Die Marina gehört nämlich zum Ort Rosignano Solvay, dessen „spiagge bianche“ (weiße Strände) laut Wikipedia – Eintrag seit 1914 aus Kalkstein und Kalziumchlorid der nahe gelegenen Solvay-Fabrik bestehen. Diese Chemiefabrik leitete bis 2010 jede Menge giftige Chemikalien ins Wasser, was sogar Auswirkungen auf die Sterblichkeitsrate der Bevölkerung hatte. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen gehören die Strände hier zu den 15 am stärksten chemisch verschmutzen Küstengebieten am Mittelmeer.

Trotzdem weht in der Marina seit 2018 die „Blaue Flagge“, und im Sommer baden hier viele sonnenhungrige Italiener. Wem soll man jetzt glauben: Wikipedia oder der Stiftung für Umwelterziehung (die die Blaue Flagge vergibt)?

Wir kommen jedenfalls nicht in Versuchung, hier zu baden. Es ist einfach zu kalt. Alle Italiener, die wir zum Thema Wetter befragen, sagen, dass es zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich kalt ist. Und dass ihnen das gehörig auf den Senkel geht!

Chemie hin oder her: Kaum sind wir tief drinnen in der Marina an Ponton G, Platz 75 fest, beginnt es wieder zu blasen. Ich gehe zum Marinabüro und bekomme gleich die Auskunft, dass wir leider auf Platz 55 verlegen müssen. Platz 75 ist für ein Acht-Meter-Boot gedacht. Na, wenigstens sind wir hier mal zu groß! Sonst zählen wir ja eher zu den „Beibooten“.

Unser neuer Platz ist dem Wind etwas stärker ausgesetzt. Immerhin bläst er von vorne und drückt uns vom Pontile weg. Dunkle Wolken rasen über den Himmel, das Barometer fällt und heftige Böen knallen aufs Schiff. Die Gewitter-App zweigt schwere Gewitter über Norditalien, und es beginnt zu regnen. Wohl dem, der eine Kuchenbude hat. In diesen Breiten eine Kuriosität!

 Sturm zieht auf.

Der Sonntag kommt, das miese Wetter bleibt.

Heute ist „Muttertag“. Ich bekomme liebe Grüße von meinen Töchtern und mache mit dem Käptn einen Spaziergang über die Strandpromenade von Rosignano Solvay.

Mein schönstes Muttertagsgeschenk: Müllfreie Parkanlagen, saubere Strände und ein junger Mann, der am Strand jedes Plastikfitzelchen aufsammelt. Da schmeckt mir der „Muttertags-Spritz“ noch mal so gut!

Falls jetzt jemand abgeschreckt wurde, hierher zu kommen:

Die Marina ist absolut empfehlenswert!

Eine gepflegte, ansprechende Anlage im modernen Stil. Pikobello Sanitäranlagen, moderate Preise (40 Euro für die ersten beiden Nächte, danach 10 % Preisnachlass). Ein riesiger COOP gleich um die Ecke und ein Autoverleih im Industriegebiet der Stadt, der das Mietauto für 20 Euro Service-Gebühr in den Hafen bringt.

Da wir hier eingeweht sind, nehmen wir die Gelegenheit beim Schopf und mieten für zwei Tage einen kleinen, schwarzen Toyota, überlassen Anima mea den Windgöttern und erkunden die Toskana.

Am Montag geht es in den Norden nach Pisa.

Pisa liegt am Arno

Ich habe ja schon so abschreckende Dinge über diese Stadt gehört!

Dass sie hoffnungslos überlaufen ist und man am schiefen Turm in einer endlosen Schlange stehen soll. Wenn man überhaupt rankommt vor lauter Menschenmassen usw.

Nichts davon trifft ein! Wir fahren ganz entspannt in die Stadt, finden einen Parkplatz in der Nähe des Zentrums und wandern an der Universität vorbei Richtung Campo dei Miracoli (Wiese der Wunder). Dort soll er stehen, der „Schiefe Turm„, neben dem romanischen Dom, dem Baptisterium und dem Camposanto (Friedhof).

Am Ende der Straße mit den hohen Gebäuden und Mauern entlang der Medizinischen Fakultät sehen wir ihn endlich! Mein Gott, steht der schief! Und so grazil mit seinen vielen Arkaden und Verzierungen! Einfach wunderschön!!!

Natürlich sind wir hier nicht die einzigen, die ihn bewundern. Aber es hält sich in Grenzen.

Auf den Turm hinauf wollen wir nicht. Nicht wegen der 18 Euro Eintritt, sondern weil wir noch Einiges vorhaben. Und vielleicht fällt er doch noch um, wenn wir da oben stehen?

Wir kaufen Tickets für den Dom, das Baptisterium und den Friedhof, der sich als ein harmonisch gestaltetes Gebäude mit edlen Skulpturen und unzähligen Grabplatten entpuppt.

Camposanto

Auch der Dom und das Baptisterium sind aufs Feinste ausgestaltet. Obwohl wir doch schon so viele  Kirchen und Klöster besucht haben, müssen wir immer noch staunen über den Ideenreichtum der Künstler und Architekten.

Baptisterium

Zuletzt stehen wir noch einmal ganz andächtig vor dem schiefen Turm, sind ganz glücklich, dass er immer noch steht und hoffen, dass er es auch noch tut, wenn wir längst das Zeitliche gesegnet haben werden. Zu schön, dieser Campanile, der schon kurz nach seinem Bau 1173 auf dem sumpfigen Untergrund in Schräglage geriet.

Dann fahren wir noch weiter nach Norden. Unser Ziel ist Carrara, wo der Marmor aus den Apuanischen Alpen sowohl zu edlen als auch zu kitschigen Kunstwerken verarbeitet wird.

Zwischen Pietrasanta und Carrara leuchten überall am Straßenrand die weißen Marmorblöcke auf dem Gelände der Marmorbetriebe. Und mittendrinn steht immer eine riesige Hebebrücke mit mächtigem Haken, der die Blöcke bei Bedarf transportiert.

 Dazwischen bieten Geschäfte ihre Skulpturen zum Verkauf an. Von der Venus von Milo – tausendfach

kopiert und dennoch nie erreicht – bis zum muschelförmigen Waschbecken ist hier alles zu haben.

Diese laszive Schönheit schmückt ein Grab im Camposanto. Ich war besonders vom seidigen Schimmer des Materials fasziniert, bin aber nicht sicher, ob es sich um Marmor oder Alabaster handelte.

Im Hintergrund erheben sich die grauen Berge mit den Steinbrüchen, in denen das weltberühmte Material abgebaut wird.

Wir fahren ein Stück in Richtung der Steinbrüche, aber langsam wird es Zeit, den Rückweg anzutreten. Gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit sind wir zurück an Bord. Anima mea hat den stürmischen Tag gut ohne uns überstanden.

Am nächsten Tag bläst der „herrische Grigal“ noch immer kalt aus Nordosten. Aber immerhin scheint die Sonne auf die saftig grüne Landschaft der südlichen Toskana.

Wogende, hellgrüne Gerstenfelder mit roten Mohnblüten getupft, silbrig-grüne Olivenhaine, dunkelgrüne Artischockenfelder und zartgrüne Weinstöcke erstrecken sich links und rechts am Wegesrand. Und natürlich stehen immer wieder die schlanken, hohen Zypressen in Gruppen an den Hängen oder säumen als Alleebaum den Weg zu den Gehöften.

Auf den Weiden grasen glückliche Kühe, Schafe und Ziegen, die abends bestimmt nicht meckern können, dass sie kein einzig Gräselein gefunden hätten, als sie übers Gräbelein sprangen.

Die Häuser in den hübschen Dörfern und Städtchen sind aus Naturstein gebaut oder leuchten in den typischen Toskanafarben von Ockergelb bis Puderrosa. Festungen und Schlösser erheben sich auf den Hügeln, Bäche und Flüsse durchziehen das Land. Eine wahre Augenweide, diese Toskana!

In San Gimignano steigen wir aus.

Schon von weitem sahen wir die sogenannten „Geschlechtertürme“ dieses „Manhattan des Mittelalters“.

San Gimignano aus der Ferne.

Nun streifen wir durch die engen Gassen mit den hohen, mehrstöckigen Wohnhäusern und bestaunen auf der Piazza del Duomo den Palazzo del Podesta – das ehemalige Rathaus – und die verschiedenen „Torri“, die sich aus dem mittelalterlichen Häusermeer erheben und einflussreichen Familien für Wohn- und Verteidigungszwecke dienten.

Es gäbe noch viel zu entdecken und zu besichtigen, aber der halbe Tag ist schon rum und wir wollen doch noch nach Siena!

Dieses „mittelalterliche Kleinod“ erstreckt sich über drei Hügel, in deren Schnittpunkt sich die Piazza del Campo aus dem 13./14. Jahrh. befindet. Wie eine riesige Muschel liegt uns der Platz zu Füßen, an dessen gerader Seite das Rathaus steht.

 

Dieser Palazzo Pubblico mit dem mächtigen Torre del Mangia ist unzweifelhaft eines der beeindruckendsten Gebäude, das wir bisher in den sechs Jahren unserer Reise gesehen haben. Und gerne schließen wir uns der Behauptung an, dass dies vielleicht sogar der schönste Platz der Welt ist.

Auch der Duomo Santa Maria dell´Assunta ist außen und innen ein Meisterwerk der Gotik. So kunstvolle Marmorintarsien haben wir in keiner römischen Kirche gesehen, und die Fresken und Deckenmalereien in der Bibliothek „Libreria Piccolomini“ können mit der Sixtinischen Kapelle durchaus mithalten!

Dom

Auf dem Fußboden: Der Kindermord des Herodes (hier nur ein kleiner Ausschnitt!)

Bibliothek

Neben all dieser großartigen Kunst findet sich in den Gassen von Siena auch eine Fülle an kleinen Läden mit toskanischen Köstlichkeiten: Schinken vom „schwarzen Schwein“, süße Leckereien und Delikatessen aus den teuersten Pilzen der Welt: den Trüffeln.

 

Daneben locken die vielen Kunsthandwerker mit ihren geschmackvollen Produkten. Wir werden in einem Kerzengeschäft fündig, in dem zwei junge Frauen ihre kunstvollen Wachslichter herstellen und verkaufen.

Kerzenkünstlerinnen

Nun haben wir noch zwei Stunden Zeit für die Rückreise durch die wundervolle toskanische Landschaft. Im COOP nahe der Marina kaufe ich am Ende der Tour ein paar Leckerbissen für ein spätes Abendbrot und verlasse als letzte Kundin den Supermarkt. Dann stellen wir den Mietwagen auf den Parkplatz und geben den Schlüssel beim Parkwächter der Marina ab. Am nächsten Morgen holt die Firma „duemila 1“ den Wagen wieder ab, ohne uns zu behelligen. Klasse Service!

Am Mittwoch ist es noch immer sehr windig. Doch am Donnerstag soll es besser werden.

Als wir morgens gegen sechs Uhr wach werden, zeigt der Windmesser Windstärke 1. Während wir alles klar zum Auslaufen machen, werden es schon vier Bft. Und als wir draußen vor der Marina sind, brausen die Böen mit fünf bis sechs Bft. aus Nordosten heran.

Unter der Knute des Grigal brettern wir mit gerefften Segeln Richtung Livorno. Dann nimmt der Wind wieder ab und schließlich muss doch wieder das „Eiserne Segel“ mithelfen, damit wir Viareggio anlaufen können.

In der Einfahrt zum Hafen von Viareggio macht es plötzlich „Tuck!“ und wir stecken auf einer Sandbarre fest. Kein Navigationsfehler, sondern ein Problem des Hafens!

Wir kommen aber schnell wieder frei und melden uns per Funk in der Madonnia Marina an.

Dort bekommen wir an Steg 6 ein Plätzchen für die Nacht. Der Preis: 32 Euro incl. Strom, Wasser und Wifi. Dusche 1 Euro extra. – Da bleibt zu überlegen, ob wir die nächsten drei bis vier Tage, für die Starkregen angekündigt ist, lieber hier bleiben, statt für 50 Euro in Portovenere/Golf von La Spezia im Regen unter der Kuchenbude zu sitzen.

Doch der Wetterbericht gibt uns noch einen Tag Zeit, vor der angekündigten Sintflut weiter zu kommen. Und die Duschen in der Madonnina Marina sind auch noch so marode, dass es mich gruselt, dort mehr als einmal im Abwasser zu stehen.

Also mache ich nach mehreren Telefonaten mit verschiedenen Yachthäfen im Golf von La Spezia am Freitagmorgen noch einen Versuch und rufe bei der „Assonautica Provinciale“ an und bekomme einen Platz für 36 Euro all inclusive.

Um 10:00 Uhr verlassen wir Viareggio, ohne dass es „Tuck!“ macht und haben eine ruhige Reise entlang der gebirgigen Toskana-Küste.

Um 13:00 Uhr erreichen wir den Golf von La Spezia und werfen einen letzten Blick auf die weißen „Sassi“ in den Bergen über Carrara.

Die Sassi

Ciao, du schöne TOSKANA!

Und:

Buon giorno, LIGURIEN!

 

 

Eine Antwort

  1. Das Wetter in diesem Jahr zeigt sich von der launischen Seite. Vielleicht kehrt jetzt ruhigeres Wetter ein, nachdem die letzte Eisheilige, die Kalte Sofie, sich austoben durfte. Drücken Euch die Daumen und hoffen mit Euch auf Frühlingswetter.
    Liebe Grüße schicken
    Susanne und Peter

    • Euer Daumendrücken können wir gut gebrauchen! Der Wetterbericht meldet Regen ohne Ende und um uns herum versinkt die schöne Landschaft in einer grauen Suppe.
      Liebe Grüße aus La Spezia!

  2. Es war eine sehr interessante Reise mit Euch! Vielen Dank!
    In Siena hätte ich vor vielen Jahren den wunderschönen Platz gerne in aller Ruhe bewundert. Lautstark unterhielten sich die Bewohner von Siena…:D
    Herzliche Grüße! Ingrid

    • Hallo, liebe Ingrid!
      Die Toskana ist ein ganz besonders schöner Teil von Italien und hat uns sehr gefallen. Siena war dabei ein Glanzstück und zieht anscheinend auch viele Schulklassen an. Und die machen bekanntlich auch ganz schön Lärm. Aber das bin ich ja noch von früher gewohnt! Ein Glück, dass ich jetzt nur noch auf mich und nicht mehr auf die Kinder aufpassen muss!
      Liebe Grüße aus dem verregneten La Spezia
      Christine

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