Dienstag, 10.September:
Nach dem guten Frühstück im Parkside Hotel machen wir uns kurz nach acht Uhr auf den Weg zu „Bootsbau Speck“ auf der anderen Seite des Main.
Es ist kalt und nebelig, als wir hinter dem Industriepark Höchst über die Leunabrücke gehen und hoffen, dass wir in den nächsten Tagen freundlicheres Reisewetter bekommen.
Hinter der Brücke zweigt ein Rad- und Fußweg nach links ab. Wir laufen an einem Maisfeld entlang, das im – wieder einmal – trockenen Sommer deutliche Trockenschäden erlitten hat. Die mickrigen Pflanzen lassen traurig ihre braunen Blätter hängen, die Kolben sind nur halb so groß wie sie sein sollten.
Hinter dem Maisfeld steht eine merkwürdige Gestalt im Kapuzenpulli neben dem Fahrrad, steckt sich gerade einen Glimmstängel zwischen die Zähne und grinst uns seltsam an. Ich bin froh, hier jetzt nicht allein unterwegs zu sein und schaue mich dann immer wieder um, ob wir verfolgt werden. Doch zu meiner Erleichterung verschwindet der Typ in der entgegengesetzten Richtung.
In dem pottendichten Nebel kann man lediglich den nächsten Baum erkennen und der Käptn fragt besorgt, ob wir in dieser „Einöde“ wohl richtig sind, doch Google Maps bestätigt, dass die Bootswerft ganz nahe ist.
Dann, hinter einigen Schrebergärten, taucht sie auch schon inmitten einer schönen Parkanlage am Mainufer auf. Dort steht auch der Kran und davor der Tieflader mit unserem Schiff.
Wir gehen zu Lucas, dem Fahrer, der uns erzählt, dass er gestern nach 10 Stunden Fahrzeit hier eingetroffen ist. Dann melden wir uns bei Speck und werden kurz danach vom Chef persönlich in den Main gekrant.
Herr Speck und Lucas helfen uns auch noch tatkräftig, den Geräteträger wieder aufzurichten und zu montieren. Nun ist die Reling wieder stabil und kann ihren Zweck erfüllen. Danach machen wir am Außensteg des Werfthafens fest. Für 10 Euro Übernachtungsgeld können wir hier bleiben und den schönen Ausblick auf die Altstadt von Höchst genießen.
Was Google Maps mir vorher nicht verraten hatte: Ein paar Schritte von unserem Liegeplatz entfernt legt in kurzen Zeitabständen die Mainfähre „Walter Kolb“ ab. Eine perfekte Möglichkeit, in der Höchster Altstadt einzukaufen!
Den Tipp hatte mir die nette Frau Speck gegeben, fügte aber hinzu: „Dass se sich nich erschrecke! Da dribbe is Klei-Anatolie. Des sin all die Aabeidder von Höchst, die da wonne.“
Ich sage, dass es auch bei uns in Hamburg Klein-Anatolien gibt, doch die meisten Türken sind ja anständige Leute, die fleißig arbeiten und Steuern zahlen. Aber leider wird ja immer nur von den wenigen negativen Beispielen berichtet.
Wer das nicht glaubt, sollte einmal erleben, wie es in der Schule meiner beiden Enkel zugeht. Da stehen z.B. bei der Einschulungsfeier Kinder aller Länder, Hautfarben und Religionen gemeinsam auf der Bühne, musizieren und schauspielern und haben nur ein Ziel: Ihre Sache gemeinsam gut zu machen. Das Ergebnis vorbildlicher Integrationsarbeit an der Louise-Schröder-Schule in Hamburg-Altona!
Dem kann sich Frau Speck nur anschließen, gibt mir einen Schlüssel für das Tor am Steg und wünscht uns einen angenehmen Aufenthalt.
Mittwoch, 11. September:
Der Morgen begrüßt uns mit blauem Himmel und Sonnenschein!
Nach dem Frühstück stecke ich den Kurs auf dem Kartenplotter. Auf den 25 Kilometern bis zur Mainmündung müssen wir ohne Papierkarte auskommen, denn der Main war ja nicht eingeplant, als wir uns auf unsere Heimfahrt vom Mittelmeer in die Ostsee vorbereitet hatten.
Um 9:45 Uhr legen wir ab. Der Main ist breit und tief. Ein tolles Gefühl!
An den Ufern wechseln sich schmucke Häuser und Industrieanlagen ab. Dazwischen gibt es auch längere Abschnitte mit Bäumen und dichtem Buschwerk, in dem sich Enten, Schwäne, Kormorane und Reiher tummeln. Sogar eine dicke, braune Sumpfschildkröte sonnt sich auf einem Baumstamm, der ins braune Mainwasser gekippt ist!
Um 10:45 Uhr nähern wir uns der Schleuse Eddersheim. Ich wähle die Nummer des Schleusenwärters auf dem Smartphone. Dabei wird mir bewusst: Ich kann jetzt deutsch reden! Muss mir keinen Text in Französisch zurechtlegen. Brauch keine Sorge haben, den Schleusenwärter nicht zu verstehen. Total ungewohnt, aber sehr angenehm fühlt sich das an!
„Eddersheim Schleuse!“, meldet sich der Schleusenwärter. „Hier ist die Segelyacht Anima mea. Wir möchten talwärts schleusen. Wie lange müssen wir warten?“, sage ich, denn man hatte uns bei Speck vor langen Wartezeiten in den Schleusen gewarnt, weil die Berufsschifffahrt Vorrang hat.
„Im Moment ist nichts los. Aber ich mach euch mal die Ampel grün,“ antwortet der Schleusenwärter zu unserer großen Überraschung. Und so verlassen wir auch schon nach zehn Minuten die große Schleusenkammer.
Um 12:20 Uhr sind wir an der Schleuse Kostheim angekommen.
Hier zeigt vor der Einfahrt zur großen Schleusenkammer ein blaues Schild mit der Aufschrift „Sportboote“ nach rechts Richtung Wehr. Ich rufe wieder beim Schleusenwärter an und frage, ob wir in die Sportbootkammer fahren sollen.
Der Schleusenwärter fragt, wie lang und breit wir sind. Ich antworte: „10 m lang, 3,20 m breit.“
„Das geht noch!“ antwortet er. „Fahrt mal in die Sportbootschleuse. Aber die müsst ihr selbst bedienen.“ – Okay! Selbstbedienung bei Schleusen kennen wir. Werden wir schon hinkriegen, denke ich, während der Käptn nach der Einfahrt sucht.
Die versteckt sich hinter einem Schiff, dass vor der Kammer festgemacht hat. Erst dahinter sehen wir, wie klein die Schleusenkammer ist. Die Anima mea passt so gerade hinein. Doch die Fender müssen an der Backbordseite hochgenommen werden und nur noch das Fenderbrett schützt jetzt den Rumpf vor Kratzern.
Nach dem Festmachen steigt der Käptn aus. An einem blauen Kasten muss der Hebel auf „Talfahrt“ gestellt werden. Dann muss ein schwarzer Knopf dauerhaft gedrückt werden. Das Schleusentor hinter uns schließt sich und das Wasser sinkt ab, während ich die Leinen fiere. Dann öffnet sich das Schleusentor vor uns, der Käptn klettert die Leiter an der Schleusenmauer hinunter und legt den Vorwärtsgang ein. Dann presst sich unser Schiff aus der engen Schleuse.
Dahinter ist das Fahrwasser erschreckend niedrig. Klar, die Sportboote hier haben ja nur wenig Tiefgang! – Vorsichtig tasten wir uns vorwärts und erreichen endlich wieder die Tiefwasserrinne am Ende der großen Schleusenkammer.
Um 13:10 Uhr erreichen wir die Mainmündung und fahren rechts ab in den Rhein. Drüben, am westlichen Ufer, grüßt uns der Mainzer Dom. Rechts von uns liegt der Mainzer Stadtteil Kostheim. Doch eine Stadtbesichtigung ist leider nicht möglich, denn der „Winterhafen“ in Mainz ist nur 1 m tief.
Der Rhein heißt hier „Oberer Mittelrhein“, ist sehr breit und stark befahren. Mitten im Fluss verläuft die Grenze zwischen den Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz, dessen Landeshauptstadt Mainz wir jetzt an Backbord passieren, während die Ausläufer der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden ein Stück weiter an Steuerbord liegen.
Mitten im Rhein liegen auch mehrere Inseln mit den Namen Petersaue, Rettbergsaue und Königsklinger Aue, an denen wir rasch vorbeidüsen, denn der Rhein hat ganz schön Strömung und verhilft uns zu 13 km/h bei nur 1500 Touren.
Das Hauptfahrwasser verläuft weitgehend am – für uns – rechten Ufer, wo sich schon seit der Mainmündung die Weingärten ausbreiten. Dazwischen liegen die schmucken Orte Eltville mit der Burg Crass, Erbach mit Schloss Reinhartshausen und zwischen Hattenheim und Oestrich Schloss Reichartshausen.
Schon jetzt wird uns klar, warum dem Rhein von jeher so viele Lobeshymnen gewidmet wurden und auch wir können da nur bestätigend einstimmen: „Oh, wie ist es am Rhein so schön!“
Nun sind wir unserem heutigen Tagesziel auch schon ganz nahe.
Es ist Rüdesheim, wohl einer der bekanntesten Orte in dieser Gegend.
Als wir noch im Rheinland lebten, haben wir ihn in jungen Jahren unabhängig voneinander schon einmal besucht. Doch außer an die berühmte „Drosselgasse“, die schon damals aus allen touristischen Nähten platzte, ist kaum etwas an Erinnerungen hängen geblieben.
Hauptsächlich wollen wir aber wegen des Hafens einen Stopp einlegen. Denn die meisten Rheinhäfen sind für uns zu flach, der Sportboothafen des Rüdesheimer YC jedoch verspricht stolze 2,40 m Tiefe.
Dann gibt es noch den BC Eltville in Rüdesheim, doch der ist uns mit 1,50 m zu flach.
Auf der Karte von unserem Binnenkarten Atlas „Mosel und Mittelrhein“ ist nicht genau zu erkennen, wo sich die beiden Häfen befinden.
Das Ufer vor der Stadt ist völlig zugeparkt mit Flusskreuzfahrern aus der Schweiz, den Niederlanden, England und Deutschland. Doch mit dem Fernglas entdecke ich in einem schmalen Seitenarm des Rhein ein Schild mit der Aufschrift Bootsclub Eltville.
Aber wo ist der YC Rüdesheim?
Ein Anruf bringt schließlich Klarheit.
Die Nummer steht ebenfalls im Kartenatlas, doch es meldet sich nicht etwa der Hafenmeister, sondern seine Frau, die mir erstmal sagt, dass ihr Mann verstorben ist. Es folgt eine kleine Pause der Betroffenheit auf beiden Seiten, dann erklärt sie mir jedoch, wie wir in den Hafen finden. Wir sollen Richtung BC Eltville mittig in den Seitenarm fahren, wo sich am Ende der YC Rüdesheim mit dem Clubschiff Dorothea befindet.
Als wir dort ankommen, entdeckt uns schon der neue Hafenmeister. Er erinnert uns in seinem Outfit und vom Typ her an „Peter Lustig“ aus der Sendung „Löwenzahn“, hilft uns beim Festmachen und führt uns durch den schnuckeligen Hafen. Für 16,50 Euro pro Nacht liegen wir hier nicht nur geschützt in idyllischer Umgebung, sondern haben auch noch ein pikobello gepflegtes Sanitärgebäude namens Klo-Thilde, Waschmaschine und Trockner zum Spottpreis von 3 Euro, kostenlose Fahrräder und WLAN.
Ganz in der Nähe sind mehrere Supermärkte und eine Tankstelle, die prächtige Platanenallee am Rheinufer und das Winzerstädtchen Rüdesheim, das wir uns in den nächsten Tagen etwas genauer ansehen wollen, als es in unserer Jugendzeit geschehen ist.